Bernhard Russi
Der über Nacht gefallene Neuschnee machte das Rennen auf der Saslong zur Wachs- und Startnummernschlacht. Mit Nummer 15 hatte der talentierte Nachwuchsfahrer das grosse Los gezogen.
Die Schweizer Favoriten, Jean Daniel Dätwyler und Söre Sprecher, konnten nicht mit den Schnellsten mithalten. „Die Niederlage für uns Schweizer schien besiegelt“, sagt der spätere Weltmeister. Doch Paul Berlinger, sein Trainer am Start, kratzte ihm in letzter Minute das gesamte Wachs vom Belag.
Anstelle eines langsamen Rennens erwartete Russi ein Höllenritt über die ganze Piste, mit Sprüngen, die um einiges länger waren als im Training, und natürlich auch mit Kurven, die um vieles unruhiger waren.
„Meine Konzentration vermischte sich mit Wut und Enttäuschung und setzte somit ungeahnte Kräfte frei“. Bernhard hatte nichts zu verlieren. Bereits in der ersten Kurve schlugen ihm Löcher und Gräben entgegen. Doch dies bereitete dem jungen, aufstrebenden Rennläufer kein Problem, denn er liebte es durch diese tiefen Furchen getrieben zu werden. „Sie waren meine Spezialität“, erinnert er sich 33 Jahre nach seinem Sieg.
Dabei war Russi sozusagen nur als Nachwuchshoffnung zum Einsatz gekommen. Und dazu kam noch ein Mißgeschick. Eine Woche vor dem Rennen hatte er sich nämlich bei einem Skitest die Hand gebrochen. „Ich habe mir gedacht, jetzt ist die Sache gelaufen. Doch die WM war eine einmalige Chance“. Im Training ist er noch mit einer Manschette gefahren, die er dann im Rennen abnahm und sich über jegllichen Schmerz, besonders beim Abstoßen am Start, mit einem Urschrei hinwegsetzte.
In tiefer Hocke erreichte er die Kamelbuckel und bemerkte, dass er sehr schnell unterwegs war. In der Tat: Russi ist an dieser berühmten Schlüsselstelle dann auch viel weiter als im Training gesprungen. Bei Ciaslat entdeckte er dann, wie in Trance, eine gewisse Bewegung im Publikum. „Ich habe gespürt, dass etwas ganz spezielles passiert“.
Im Ziel rief ihm sein um zwei Jahre jüngerer Bruder Manfred, „ein Jahrhunderttalent“, wie Bernhard sagt, lauthals zu: „Bestzeit!“. „Dieser Moment, wird mich mein Leben lang begleiten und hat sicher auch entscheidende Weichen gestellt“, sagt der heute 55jährige.
Auch nach der Nummer 15 wurde die Piste zusehends schneller. Russi, der als letzter Erste-Gruppe-Läufer eine Zeit von 2.24,57 Minuten erzielt hatte, mußte deshalb noch einige Minuten bangen. Danach war die Hölle los. „Ich wußte nicht, was mit mir geschieht. Ich hätte alles gemacht, auch, wenn man mich nackt ausgezogen hätte“.
Auch sein Vater stand im Ziel und gratulierte ihm mit Tränen in den Augen. :“ Ich laß dich jetzt zur Siegerehrung gehen, aber vergiß nicht wieder von der Treppe herunterzukommen“, empfahl er seinem Sohn. Dazu Russi: „Mein vater hat mir im richtigen Moment etwas Entscheidendes gesagt“.
Der neue Weltmeister war vom Sieg so überwältigt, dass er erst gegen 16 Uhr, als er im ORF-Studio in St.Ulrich zum Interview geladen war, realisiert hat, dass seine Schuhschnallen noch in Rennposition waren und ihm beinahe den Blutfluß absperrten.
Anschließend fuhr er ins Hotel nach Wolkenstein zurück. „Ich habe mir erwartet, dass die Hölle los ist, doch da war niemand“. Erst im Zimmer, erstmals ganz mit sich alleine, hat er realisiert, dass er eigentlich gewonnen hatte. „Ich habe den Helm in die Ecke geschleudert, um mich wachzurütteln, um zu kapieren, dass ich wirklich Weltmeister bin“.
Im Zimmer passierte dann noch etwas Lustiges. Russi fand seine Kleider für die Siegerehrung im Eisstadion von St.Ulrich nicht mehr. Die Schweizer Teamverantwortlichen hatten wohlweislich vorgedacht und seinen Anzug bereits nach in den Grödner Hauptort gebracht. Doch da im Trubel konnte er sie nicht mehr finden und lieh sich von einem Mannschaftskollegen einen um zwei Nummern kleineren Anzug aus.
„Der Wirt vom Hotel Alaska, Vinzenz Mussner, hatte mich zur Siegerehrung gefahren. Doch weil wir im Stau nicht mehr vorankamen und deshalb riskierten die Feier zu verpassen, alarmierte er die Polizei. Diese begleitete mich dann mit Blaulicht und Sirene zur Prämierung ins Eisstadion“.
Russi bekam sozusagen bereits bei seinem ersten WM-Einsatz die Krone aufgesetzt. „Ich war jetzt bereit die Grundlagen für meine spätere Karriere zu setzen, also vierte und fünfte Plätze einzufahren, um ein richtig guter Rennläufer zu werden“.
Diese Überzeugung machte sich bezahlt und gab ihm Recht. Nach dem WM-Titel in Gröden wurde er sogleich Schweizer Meister; zwei Jahre später Olympiasieger in Sapporo (1972) und vier Jahre später Silbermedaillengewinner in Innsbruck (1976). Insgesamt hat der Gentlemen unter den Skiläufern zehn Weltcuprennen gewonnen, darunter neun Abfahrten und einen Riesentorlauf.
Das Ende seiner Karriere kam dann ganz plötzlich. Nach dem WM-Lauf in Garmisch, 1978, wo er 14. wurde, entschied er aufzuhören, ganz unspektakulär, gemeinsam mit seiner Frau und zwar auf der Heimfahrt vom Zielraum ins Hotel. „Jeder Lebensabschnitt geht einmal zu Ende, sagt er, so schön er auch gewesen sein mag“.
Gernot Mussner, 2003